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Covid-19 und Demokratie

Beitrag in "INTERNATIONAL - Zeitschrift für Internationale Politik"

COVID-19 und demokratie

In der nächsten Ausgabe “INTERNATIONAL”, der Zeitschrift für Internationale Politik, erscheint ein Beitrag zu den aktuellen Diskussionen rund um Freiheit in der Pandemiepolitik von Andreas Novy. Vorab bereits hier für unsere Mitglieder zu lesen.

January, 2022

Andreas Novy

Es ist fast schon ein Gemeinplatz festzuhalten, dass
Covid-19 die westliche Demokratie auf die Probe stellt. Die Gefahr ist aber
nicht diejenige, die auf ermüdende Weise die öffentliche Debatte der letzten
Monate prägt: dass nämlich durch Corona der gesellschaftliche Zusammenhalt
bröckle. Ja, eine gewisse Polarisierung der Bevölkerung ist zu beobachten. Doch
diese passierte nicht aus sich selbst heraus, sondern wurde in Österreich
massiv von der FPÖ und anderen staatskritischen Gruppen vorangetrieben. Die FPÖ
hat eine politisch autoritäre und kulturell reaktionäre Grundhaltung, die sie
auf opportunistische Weise mal mehr, mal weniger stark betont. Mit dem neuen
Parteichef Herbert Kickl wird aktuell radikalisiert. Die Covid-Maßnahmen sind
ein Vehikel dafür. Eine Partei, die in der Vergangenheit selbst verpflichtende
Impfungen forderte, heftet sich nun das Banner der Freiheit auf ihre Fahnen.
Das sollte nicht verwundern, trägt die FPÖ ja „Freiheit“ sogar in ihrem Namen.
Doch welche Freiheit meint eine Partei, die gleichzeitig autoritär und
reaktionär ist? Leider ist es keine Erfindung von Kickl, Bolsonaro und Trump,
freiheitlich, autoritär und reaktionär gleichzeitig zu sein.

Tatsächlich können sich all diese reaktionären Politiker,
denen oft vorschnell Unwissen unterstellt wird, auf eine bestimmte Tradition
westlichen Denkens berufen: In einer Spielart des Liberalismus – der Hayek‘schen
Variante eines Neoliberalismus, der den angelsächsischen
Wirtschaftsliberalismus radikalisierte – wird Freiheit absolut gesetzt. Freiheit
wird einzig negativ definiert, nämlich durch die Abwesenheit von staatlichem
Zwang. Diese Spielart des Liberalismus kokettierte immer mit einem
Sozialdarwinismus des „Rechts des Stärkeren“. John Lockes Besitzindividualismus
legitimierte schon im 18. Jahrhundert die Enteignung der amerikanischen
Indigenen, weil sie das Land nicht so „vernünftig“ nutzten wie die weißen
Siedler. Dieses Verständnis von Freiheit radikalisierte sich mit der
neoliberalen Globalisierung der letzten Jahrzehnte und wird in der
Covid-19-Pandemie zu einer echten Gefahr für die westliche Zivilisation. Die
radikalste Variante dieses Hyperindividualismus findet sich im Silicon Valley,
verkörpert von Peter Thiel, dem neuen Arbeitgeber von Altkanzler Sebastian
Kurz.

Friedrich Hayek sah noch ein Spannungsverhältnis von
Demokratie und Freiheit. Freie individuelle Entscheidungen seien Grundlage
einer freien Gesellschaft. Der Markt als effiziente
Informationsverarbeitungsmaschine schaffe eine spontane Ordnung, die durch den
Preismechanismus die gesellschaftlich besten Ergebnisse produziere. Der Markt,
so Hayek, wisse mehr als alle Experten. Daher müsse die politische Demokratie
so begrenzt werden, dass sie nicht willkürlich die wirtschaftlichen Freiheiten
der Einzelnen beschränkt – gleichsam einer marktgerechten Demokratie. Und schon
Hayek postulierte, dass Freiheit in einer Diktatur überleben könne, nicht aber
in einer „unbegrenzten Demokratie“. Damit meinte er eine Demokratie, die nicht
nur das ungestörte Funktionieren des Marktes sicherstellt, sondern die auch in
die Art zu leben und zu arbeiten eingreift. Dieses neoliberale Verständnis von
Demokratie und Freiheit prägte die letzten Jahrzehnte. Nicht nur Libertäre,
sondern auch Angela Merkel, Barack Obama und die de-facto-Verfassung der
Europäischen Union orientierten sich am Grundgedanken, staatliche Eingriffe in
die Marktwirtschaft möglichst gering zu halten.

Neoliberale erzogen die Menschen, das Ausmaß ihrer Freiheit
an der Höhe des Bankkontos und an der Nicht-Einmischung des Staates zu messen.
Die Freiheit zu konsumieren galt mehr als die Freiheit zu wählen. Die Linke sympathisierte
immer öfter mit einem weltoffenen Linksliberalismus: Individuelle Lebensformen sollten
durch Antidiskriminierungsgesetze gesichert, individuelle Freiheitsräume ausgeweitet,
der Staat beschränkt werden. Das gute Leben wurde privatisiert: Die eine
leisteten sich für ihre Kinder teure Privatschulen, die anderen gründeten
Alternativschulen. In einer derart individualisierten Gesellschaft ist es die einzige
Aufgabe des Staates, möglichst wenig zu stören, und die einzige Aufgabe der
Demokratie, staatliche Willkür zu verhindern. Die Folge ist ein schleichender Legitimationsverlust
von Politik und Staat.

Die Plattformkapitalisten des Silicon Valley orientieren
sich an Hayek und fordern einen Hyperindividualismus, der von möglichst allen
staatlichen Regeln und Zwängen befreit ist. Peter Thiel unterstützte im
Unterschied zu den meisten anderen Plattformkapitalisten Donald Trump. Er
versteht sich als Nonkonformist. Er predigt für eine Welt, in der jeder seines
Glückes Schmied ist. Eine Welt, die gut ist, weil sich die Stärksten und Besten
durchsetzen. Eben dieser Peter Thiel glaubt auch nicht, dass Freiheit und
Demokratie miteinander vereinbar sind. Damit ist er konsequenter, radikaler als
Hayek.

Die Covid-Pandemie eröffnet dieser antistaatlichen Ideologie
neue Möglichkeiten. Jede effiziente Pandemiepolitik muss eingreifen in das
Leben und Arbeiten von Menschen. In Ostasien erfolgte dies geplant und vor
allem anfangs für westliche Verhältnisse zu einschneidend. Tatsache ist, dass
in den Demokratien und Diktaturen Ostasiens die Verwerfungen der Pandemie
deutlich geringer waren als in Europa und Amerika.

In Österreich ergriff die FPÖ die Chance zur weiteren
Destabilisierung einer politischen Ordnung, die schon neoliberal destabilisiert
und durch ÖVP-Skandale noch weiter delegitimiert ist. Pandemiemaßnahmen gelten
manchen pauschal als ungebührliche Eingriffe in die Privatsphäre. Dem Staat wird
das Recht abgesprochen, den Einzelnen Grenzen zu setzen. Covid-Maßnahmen werden
als Grundrechtsverletzungen bezeichnet, auch wenn sie der Verfassungsgerichtshof
erlaubt. Letztlich verschließen sich „Impfgegner“ allen Autoritäten – der
demokratisch gewählten Bundesregierung, dem demokratisch gewählten Parlament,
in dem die meisten Maßnahmen von vier der fünf Parteien beschlossen wurden, dem
Verfassungsgerichtshof, der in bestimmten Fragen über Regierung und Parlament
steht.

Es stimmt, dass viele der Demonstrierenden das autoritäre
und reaktionäre Gedankengut eines Herbert Kickl und Peter Thiel nicht teilen.
Aber alle Demonstrierenden leugnen, dass ein Gemeinwesen Freiheit und
Solidarität erfordert. Alle Demonstrierenden teilen ein verantwortungsloses
Freiheitsverständnis, das staatliche Regeln grundsätzlich problematisch findet.
Doch es ist schlicht verqueres Denken zu glauben, Verbote seien prinzipiell schlecht.
Nur weil es verboten ist zu stehlen, kann Privates genutzt werden. Nur weil auf
der Straße nicht gespielt werden darf, können sich Autos rasch bewegen. Und nur
wenn es Autos verboten wäre, auf der Straße schneller zu fahren als Schrittgeschwindigkeit,
könnten Kinder auf ebendiesen spielen. Verbote sind Grundlage von Freiheit,
dialektisch miteinander verbunden.

Die Demonstrierenden wiederholen, ohne es zu wissen, die
Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit. Für Hans Kelsen, Architekt der
österreichischen Bundesverfassung, war Demokratie die beste Herrschaftsform,
weil sie diejenige ist, die individuelle Freiheiten am wenigsten beschränkt. Moderne
Gesellschaften sollten sich, Kelsen folgend, am Freiheitsbegriff der antiken
Polis orientieren, in der Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gingen.
Demokratie ist dann eine Form kollektiver Selbstbeschränkung, Freiheit eine
Form koordinierten und gemeinsamen Handelns der Bürgerinnen und Bürger. Diesen
sozialen Freiheitsbegriff unterschied Kelsen von einem germanischen und
anarchischen Freiheitsbegriff möglichst unbehinderter Selbstentfaltung.

Für Kelsen ist Demokratie die Herrschaft der Mehrheit. Da
ihm bewusst war, dass dies gefährlich werden könne, gibt es in unserer
Verfassung auch den Schutz von Minderheiten, von Grundrechten und der
Privatsphäre. Demokratie und Freiheit stehen in der österreichischen
Bundesverfassung in einem Spannungsverhältnis. Einzelne Maßnahmen – wie eine
Impfplicht – sind immer in diesem abzuwägen. Das letzte Wort hat in diesen
Fragen der Verfassungsgerichtshof.

Damit sind wir mitten in den Debatten zur Pandemiepolitik,
die als Trauerspiel die ganz konkreten, schmerzhaften Folgen illustriert, zu
denen ein falsches Verständnis von Freiheit und Demokratie führt. Niemandem ist
die Freiheit genommen, sich zu betrinken. Aber es wäre ein verqueres
Freiheitsverständnis, die Freiheit einzufordern, alkoholisiert Auto zu fahren. Ebenso
ist es ein verqueres Freiheitsverständnis, die Freiheit einer Minderheit nicht
zu beschränken, andere mit einem potenziell tödlichen Virus anzustecken. Die
demokratische Alternative zu solch verquerem Freiheitsverständnis heißt,
Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen – um Leben zu retten und
mittelfristig wieder ein sicheres Leben zu ermöglichen.

Für Kelsen haben demokratisch legitimierte
EntscheidungsträgerInnen die Aufgabe, das Zusammenleben so zu regeln, dass
möglichst viele in möglichst vielen Belangen frei sein können. So viel Freiheit
wie möglich, so viel staatliche Eingriffe zum Schutz der Bevölkerung wie nötig.
Die Pandemie effektiv zu bekämpfen, hier in Österreich und durch effiziente
Impfkampagnen auch weltweit, ist oberstes Ziel einer Politik, die langfristig
wieder Freiheit für alle schaffen will.

Hier hat die EU international versagt, weil es noch immer keine vorübergehende Aufhebung der Impfpatente gibt. In Österreich haben die EntscheidungsträgerInnen zu oft zu spät gehandelt. Es gelang der Bundesregierung nicht, zu erklären, dass Freiheit mit Verantwortung einhergehen muss, dass wir selbst impfen und dem Globalen Süden zur Impfung verhelfen müssen, um durch andauerndes
Infektionsgeschehen nicht laufend gefährlichere Mutationen zu produzieren, und
dass Freiheit die Solidarität mit Immungeschwächten, akut Erkrankten, Verletzten
und dem Gesundheitspersonal erfordert. In einer Pandemie so wie in der
Klimakrise sitzen alle im selben Schiff – auch wenn sich im Notfall manche
besser retten können als andere. Gesunken ist auch die Titanic.

Kelsen verließ Österreich 1930, weil sein
Demokratieverständnis von den Christlichsozialen nicht geteilt wurde.
Autoritäres Denken ersetzte in den 1930er Jahren sein Verständnis einer
aufgeklärten und pluralistischen Gesellschaft, die immer Kompromisse braucht
und in der immer einige unzufrieden sein werden. Die zentrale Lehre aus dem damaligen
Scheitern der Demokratie ist: Ist Demokratie nicht imstande, ein gesichertes
und gutes Leben zu gewährleisten, dann greifen Menschen nach autoritären
Lösungen. Dann kann ein pervertierter Freiheitsbegriff von Staatsverweigerern
der Demokratie den Todesstoß versetzen. Dann sind die Corona-Demos nur der
Auftakt zur Demontage unserer liberalen Demokratie.

Nicht Herbert Kickl, nicht die liberalen und esoterischen
Nicht-FPÖler, die gemeinsam mit Rechtsextremen demonstrieren, sind das Problem.
Das Problem ist libertäres Denken und libertäres Tun, das staatliches Handeln
diskreditiert mit einem einzigen Zweck: selbst die Macht an sich zu reißen.
Peter Thiel geht weiter als Hayek. Nicht Markt und Konkurrenz, sondern
Monopole, die von den Starken und Erfolgreichen kontrolliert werden, seien das
Rückgrat einer hyperindividualisierten Gesellschaft. Wenige Auserwählte,
Entrepreneurs des Silicon Valleys und andere Unternehmensbosse, schreiben das
Skript nicht nur ihrer geheimen Algorithmen, sondern auch unser aller Zukunft.

 

So löst sich letztlich das Rätsel, wie man freiheitlich,
autoritär und reaktionär gleichermaßen sein kann. Neoliberale so wie Thiel
perfektionieren einen Trick: Anti-Autoritarismus und Freiheitsdenken für die
Masse zu propagieren, um sie letztlich selbst autoritär zu führen. Kurzum: Weg
mit den alten Autoritäten! Her mit den neuen Eliten! An die Stelle der „Altparteien“,
des „korrupten, streitenden, nicht handlungsfähigen“ politischen Systems tritt dann
eine neue Form des Antidemokratismus: die unheilige Allianz von Trump und Thiel,
von wirtschaftlicher und politischer Macht. In den USA scheiterte Trump am 6.
Jänner 2021. In Österreich hat Ibiza eine Regierung zu Fall gebracht, die stolz
war auf die enge Kooperation von Politik und Wirtschaft – bis zu den nun im
Raum stehenden Korruptionsvorwürfen. Demokratie kann also Bestand haben. Aber
nur, wenn sie ein verqueres Freiheitsdenken in Schranken hält und ihre
Vordenker entmachtet. 

Emerging from the emergency

Debate on State Responses to Covid-19

Emerging from the emergency [1]

29th of December, 2021

Davide Caselli, Carlotta Mozzana and Barbara Giullari

All over the world, although with significant differences, the Covid-19 public health crisis has rapidly evolved into a social emergency, with states “discovering” – as a consequence of the lockdowns and restrictions to social and commercial activities –  millions of individuals and families (totally or partially) excluded from existing social security systems aimed at preventing citizens from poverty. 

Going back to the root of the word “emergency” – becoming visible – in the last two years we have seen in Italy as elsewhere, the “emergence” in the public sphere of two groups. On the one hand, the most vulnerable population, living at the margins of both production and institutionalized reproduction (public welfare): precarious workers, working poor and unemployed, homeless, undocumented and recent immigrants. On the other hand, the social and political activist groups that struggle to respond to the social emergency and to make it a political issue, criticizing the politics and policies of invisibilization of vulnerable groups.

Two years after the crisis outbreak, the extraordinary measures and initiatives to alleviate the hardest aspects of pan-syndemic impoverishment have not put into question extant policies and the cognitive and normative frames upon which they are based.

This double emergence reflects the complexity of the pan-syndemic and reveals the imbrication of sanitary, social and political dimensions in the interpretation of an emergency outbreak.

We can learn from the experience and the critical thinking about “natural” and health emergencies that such complexity can be conceived in two fundamentally different ways: as a punctual and extraordinary “natural” emergency or as the arrival point of longer cycles of hegemonic models of economic and cultural development.

In the first case, what is required is the mobilization of technical and operational abilities for the immediate reaction and alleviation of its consequences, mainly conceived in humanitarian terms: it is the dominant understanding of “preparedness” (based on highly abstract modelling of risks, stockpiling of health and food supplies, activation of standardized emergencies protocols, etc.) which does not question the origins of the catastrophe. In the second case, an alternative, transformative idea of “preparedness” can be mobilized, to cultivate the radical rethinking of the dominant economic model and the practical experimentation of alternatives. While obviously this does not exclude the need to promptly respond emergency outbreaks, it points to a different way of doing it, based on four principles: 1) the shift from short temporal terms of emergency to the longer temporal horizon of historical and ecological transformations; 2) the democratization of the process of definition of emergency and emergency responses; 3) rethinking the notion of vulnerability not as an exception but as the fundamental feature of individual and social life, in the wake of feminist ethics of care; 4) contrast the dominant “humanitarian” approach to emergency through a politicization of health, natural and social crises.

It is urgent to develop critical discussion among researchers, activists and citizens around these issues, with the hope and the determination to help making a counter-hegemonic cultural, social and political movement emerge from the emergency.

 

[1] These reflections come from a joint work in the context of the research project PRELOC (Building Local Preparedness to Global Crises), led by Prof. Lavinia Bifulco https://centri.unibo.it/cidospel/it/ricerca/prelocproject/2020-1150_preloc_-definitivo.pdf/@@download/file/2020-1150_PRELOC_%20definitivo.pdf

 

Davide Caselli

Davide Caselli is a post-doc researcher at University of Milano-Bicocca. His work is focused on expertise, social policy and financialization. He is member of the Foundational Economy Collective (https://foundationaleconomy.com) and the Sui Generis Research Lab (http://laboratoriosuigeneris.altervista.org).

Carlotta Mozzana

Carlotta Mozzana is assistant professor at the Department of Sociology and Social Research of the University of Milano-Bicocca. Her main research interests include the role of knowledge in decision making processes, the transformation of public action, the forms of social vulnerability and the socio-institutional changes of welfare.

Barbara Giullari

Barbara Giullari (Ph.D. Sociology and Social policy) is Associate Professor of Economic Sociology at the SDE - Sociology and Business Law Department - University of Bologna where she teaches “Local Social Planning” and “Labour and Care Regime”. Her main research interests are related to transformations of work and employment trajectories, social work, transformations of welfare systems and local social planning, knowledge and public action, educational policies development.

Read the other essays on the State Responses to Covid-19 here: 

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